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01
2022

Risiko vs. Unsicherheit.

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Viele Anleger bringen die Begriffe Risiko und Unsicherheit durcheinander. Auf den ersten Blick scheint das nicht weiter schlimm, aber eine genaue Betrachtung zeigt, dass es sich um zwei grundsätzlich verschiedene Dinge handelt.

Schon vor 100 Jahren schrieb Frank Knight in seinem Buch „Risk, Uncertainty and Profit“, dass die Begriffe Risiko und Unsicherheit nicht sauber voneinander getrennt werden:

„Unsicherheit muss in einem Sinne verstanden werden, der sich radikal vom bekannten Begriff des Risikos unterscheidet. [...] Messbare Ungewissheit oder das eigentliche 'Risiko' unterscheidet sich so sehr von einer nicht messbaren Ungewissheit, dass sie in Wirklichkeit gar keine Ungewissheit ist.“  [1]

Risiko

Das Statement von Knight verdeutlicht, was den entscheidenden Unterschied ausmacht: Risiko ist quantifizierbar. Das gilt etwa beim Durchführen von Zufallsexperimenten oder bei der Teilnahme an Glücksspielen. Hier sind Wahrscheinlichkeiten und Zeitpunkte für den Erfolg oder Misserfolg sowie die Konsequenzen des Handelns und alle möglichen Szenarien bekannt und damit prognostizierbar. Oder denken wir an die Kalkulation von Versicherungen, bei denen das Ganze zumindest ausreichend genau logisch oder empirisch schätzen lässt. Deshalb erfordern gute Entscheidungen unter Risiko vor allem Logik und statistisches Denken.

Unsicherheit

Anders als Risiko ist Unsicherheit nicht quantifizierbar. Das liegt am Einfluss unbekannter oder unvollständiger Informationen sowie daran, dass Anleger eine gewisse Zeit brauchen, um gewisse Wahrscheinlichkeiten richtig zu beurteilen. Denken wir an die Coronakrise im Frühjahr 2020, die zwar im Vorfeld für möglich gehalten, aber nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Auch politische Entwicklungen wie der Brexit oder das Eingreifen der chinesischen Regierung an den Märkten sind von Unsicherheit geprägt. In diesen Fällen lassen sich nur schwammige oder subjektive Einschätzungen treffen. Deshalb erfordern gute Entscheidungen unter Unsicherheit intelligente Heuristiken und auch Intuition. Eine andere Lösung sind systematische, prognosefreie Strategien, die von Vornherein klare Regeln zur Begrenzung von Verlusten aufweisen.

Strukturbrüche

Ein Problem an den Märkten besteht darin, dass Risiken zwar quantifizierbar sind, aber eben nicht konstant wie bei einem Würfelspiel – sie verändern sich immer wieder und sorgen damit für Unsicherheit, ob ein Ansatz auch in Zukunft noch einen Vorteil hat. Deshalb gibt es nur wenige dauerhaft stabile Strategien.

Angenommen, eine Handelsansatz weist im Backtest eine Trefferquote von 65 Prozent und ein Payoff-Ratio von 1,0 auf. Es handelt sich dabei also um eine profitable Strategie. Und gäbe es nur Risiko, könnte man damit „sicher“ Geld verdienen. Entscheidend ist aber, dass hier stets noch die Unsicherheit dazukommt, ob diese Werte für die Zukunft überhaupt (annähernd) stimmen.

Die folgende Grafik verdeutlicht das: Nach 250 Beobachtungen kommt es mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent zu einem Strukturbruch. Das Problem besteht darin, den Bruch so schnell und so sicher wie möglich zu erkennen.

risiko vs. unsicherheit
Abbildung 1) Strukturbruch
Quelle: de Prado, M. L (2021), Escaping The Sisyphean Trap: How Quants Can Achieve Their Full Potential, S. 9

Die Kenntnis-Matrix

Neben der Frage der Quantifizierbarkeit kommt es außerdem darauf an, was wir überhaupt wissen und was nicht, und wie bewusst uns diese Dinge sind. Dazu formulierte der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf einer Pressekonferenz am 12. Februar 2002 einen bekannten Ausspruch:

„Es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es Unbekanntes gibt; das heißt, wir wissen, dass es einige Dinge gibt, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekanntes Unbekanntes – das sind die Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.“  [3]

Aus diesen Begriffen lässt sich die folgende Matrix erstellen, um strategisches Handeln sinnvoll zu strukturieren.

Abbildung 2) Die Kenntnis-Matrix
Quelle: Brier, N. (2020), Why is this interesting? – The Known Unknowns Edition, https://whyisthisinteresting.substack.com/p/why-is-this-interesting-the-known, Zugriff am 04.10.2021

Known Knowns sind etwa Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die wir kennen und mit denen wir (täglich) umzugehen wissen.

Mit Unknown Knowns sind statistische Prognosen von Ereignissen gemeint, etwa Fehlerraten oder Wahlbeteiligungen, deren Eintreffen und Umfang für größere Mengen von Ereignissen relativ genau, für den Einzelfall aber nicht exakt vorhersagbar sind. Und Known Unknowns beschreiben bekannte Wissenslücken im Sinne von bewusstem Nichtwissen, die sich durch Fragen und Forschung verkleinern lassen. [3]

Unknown Unknowns treffen uns dagegen völlig unvorbereitet: Es sind Ereignisse oder Zufälle, die uns in Art, Umfang und Auswirkung überraschen.

Besonders schwerwiegende Unknown Unknowns werden auch als Schwarze Schwäne bezeichnet – extrem seltene, unvorhersehbare Ereignisse, die erhebliche Auswirkungen auf die Märkte haben. [5] Der Definition nach wandelt sich ein Unknown Unknown mit dem ersten Auftreten zu einem Known Unknown, kann anschließend durch empirische Analysen zu einem Unknown Known werden und später vielleicht zu einem Known Known. [3]

Ein Paradoxon

Schwarze Schwäne geben der Unsicherheit aber einen übermäßig negativen Anstrich. In der Praxis kann diese genauso gut im Positiven verstanden werden, indem etwa Potenzial für erfreuliche Überraschungen besteht. Und überhaupt: Anleger setzen sich Risiken und Unsicherheiten doch gerade deshalb aus, weil sie am Ende eine positive Rendite daraus erwarten.

Allerdings haben viele Menschen eine gewisse Angst vor Unsicherheit, wie sich anhand des Ellsberg Paradoxons zeigen lässt. [6] Angenommen, es gibt zwei Urnen, in denen jeweils 100 Kugeln enthalten sind:

  • Urne 1 enthält 50 rote und 50 schwarze Kugeln
  • Urne 2 enthält 100 Kugeln mit unbekannter Farbverteilung. Es kann jede beliebige Kombination enthalten sein.

Zunächst wählt der Spieler selbst, ob rot oder schwarz einen Gewinn bedeutet. Dann wird aus einer der Urnen zufällig eine Kugel gezogen. Welche wäre dafür besser, Urne 1 oder Urne 2?

Die häufigste Antwort ist, dass Urne 1 bevorzugt wird. Das ist paradox: Denn egal, welche Farbe zuvor gewählt wurde, wird angenommen, dass eine 50/50-Chance besser ist als eine völlig unsichere Verteilung. Aber es kann nicht sein, dass sowohl das Ziehen einer roten als auch einer schwarzen Kugel aus Urne 1 statistisch besser ist als das Ziehen aus Urne 2 mit einer beliebigen Verteilung.

Wer zwischen rot und schwarz indifferent ist, kann aus statistischer Sicht mit Urne 2 nicht schlechter abschneiden. Und dennoch scheuen wir uns, die unsichere Urne zu wählen und nehmen lieber die riskante. Wir bevorzugen das bekannte Risiko, obwohl es keinen Vorteil bringt.

Was in unsicheren Situationen oft vergessen oder unterschätzt wird, ist die Chance, dass unser Ergebnis auch besser ausfallen könnte als gedacht. Die Chance, dass in Urne 2 fast nur rote Kugeln sind. Oder die Chance, dass eine Aktie 100 Prozent statt zehn Prozent steigt.

Die „richtige“ Beurteilung von Risiken und Unsicherheiten hängt von der jeweiligen Person ab und speziell davon, welche Anlageziele verfolgt werden und welche Drawdowns man aushalten kann.

Die Realität an der Börse

Die Märkte verarbeiten fortlaufend das Gemisch aller Fakten, Erwartungen, Risiken und Unsicherheiten und machen daraus für jedes Instrument eine einzige Zahl, den Preis. Man könnte nun meinen, dass dieser erstaunliche Prozess zu weitgehend effizienten Kursen führt. Doch das muss nicht so sein.

Denn vor allem Unsicherheiten bestehen nicht nur in der fundamentalen Entwicklung von Unternehmen und Wirtschaft, sondern auch in Bezug auf das Verhalten und die Reaktion der Marktteilnehmer. Die damit verbundene, mögliche Wechselwirkung von Ursache und Wirkung wird als Reflexivität bezeichnet und ist ihrerseits eine Quelle von Unsicherheit. Dadurch entsteht ein anhaltend dynamisches System, das sich für eine Weile relativ stabil entwickeln kann, aber früher oder später wieder durcheinandergebracht wird. Oft geschieht das, wenn ein starker Konsens dazu führt, dass viele Anleger gleichgerichtet denken bzw. entscheiden und es zu Übertreibungen an den Märkten kommt.

Ein gutes Beispiel für gleichgerichtetes Denken war die Erwartung, dass sich Aktien aus dem Bereich Clean Energy nach der Wahl von US-Präsident Biden und der Rückkehr zum Pariser Klimaabkommen positiv entwickeln sollten. Doch genau das Gegenteil trat ein: Klassische fossile Werte machten eine Trendwende und outperformten sie „sauberen Werte“ deutlich.

Ein anderes Beispiel sind Crashs. Hier ist die Wahrnehmung von Unsicherheiten stark negativ, während bestehende Risiken subjektiviert und damit ebenfalls oft überschätzt werden. Sobald dann diejenigen Anleger die Oberhand gewinnen, die hohe Risiken und Unsicherheiten als Chance sehen, entsteht ein neues Gleichgewicht.

Fazit

Risiken und Unsicherheiten sind unsere ständigen Begleiter an den Märkten. Risiken lassen sich objektiv beurteilen (Wie hoch sind sie?) und gestalten (Wie viel möchte ich eingehen?). Bei Unsicherheit ist das nicht der Fall bzw. nur aus einer subjektiven und damit meist verzerrten Wahrnehmung heraus.

Anleger müssen erkennen, dass an der Börse stets sowohl Risiken als auch Unsicherheiten bestehen und diese von Vornherein bedenken. Ebenso sollte man seine persönliche, subjektive Perspektive kennen – Emotionen, Werte und Normen –, da diese einen erheblichen Einfluss auf Entscheidungen haben kann.

Letztlich ist genau das auch die größte Herausforderung: Denn die „richtige“ Beurteilung von Risiken und Unsicherheiten hängt von der jeweiligen Person ab und speziell davon, welche Anlageziele verfolgt werden und welche Drawdowns man aushalten kann. Eines sollte man dabei aber nie vergessen: Am Ende sind es die unvorhergesehenen Dinge, die den ganzen Plan zunichte machen können.

Quellen

[1] Knight, F. H. (1921), Risk, Uncertainty, and Profit, Houghton Mifflin Company, S. 19-20
[2] de Prado, M. L (2021), Escaping The Sisyphean Trap: How Quants Can Achieve Their Full Potential
[3] Wikipedia, There are known knowns, https://de.wikipedia.org/wiki/There_are_known_knowns, Stand: 12.01.2022
[4] Brier, N. (2020), Why is this interesting? – The Known Unknowns Edition, https://whyisthisinteresting.substack.com/p/why-is-this-interesting-the-known, Zugriff am 04.10.2021
[5] Taleb, N. N. (2007), The black swan: The impact of the highly improbable, London, Penguin books
[6] Ellsberg, D. (1961), Risk, Ambiguity, and the Savage Axioms, Quarterly Journal of Economics 75 (1961), Nr. 4, S. 643–669
[7] Boeckelmann, L. / Mildner, S.-A. (2011), Unsicherheit, Ungewissheit, Risiko - Die aktuelle wissenschaftliche Diskussion über die Bestimmung von Risiken, SWP-Zeitschriftenschau

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