Die Ausgangssituation
Die aktuelle Niedrigzinsphase herrscht schon so lange vor, dass sie beinahe zur neuen Normalität geworden ist. Doch aus der Vergangenheit wissen wir, dass früher oder später jedes Regime wieder abgelöst wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Szenario möglicher Zinserhöhungen bereits im Jahr 2017 auf der Agenda stand, wie eine damalige Umfrage unter Aufsichtsbehörden ergab. [1]
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass steigende Zinsen stabilisierend wirken sollten. Ganz nach dem Motto: „Wenn anhaltende Niedrigzinsen ein systemisches Risiko der Lebensversicherungsbranche sind, dann müsste das Gegenteil doch positiv sein – oder?“. Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Der Ausgangspunkt unserer weiteren Betrachtung ist die bisherige Entwicklung. Eine Studie der Bundesbank beschreibt zwei Trends mit gegenläufigen Effekten, die seit dem Jahr 2008 zu beobachten waren [2]:
Die Lebensversicherer haben ihre Asset-Duration von 4,8 (in 2008) auf 8,9 Jahre (2017) fast verdoppelt. Das Ziel: Im Niedrigzinsumfeld die Durationslücke zu den langfristigen Verbindlichkeiten zu verringern. Die über den Bilanzkanal erhöhte Zinssensitivität aber bedeutet auch, dass die Anfälligkeit gegenüber möglichen Zinssteigerungen zugenommen hat.
Der andere Trend war ein Anstieg der Puffer durch Bewertungseffekte sowie reduzierte Gewinnbeteiligungen für Kunden und Aktionäre. Zudem wurden die deutschen Lebensversicherer über Reformen entlastet.
Zinsanstieg - Verschiedene Effekte
Wie im Niedrigzinsumfeld ergeben sich auch für den Fall von Zinssteigerungen zwei Effekte. Zum einen erhöhen sich die bei Reinvestition in festverzinsliche Wertpapiere erzielten Erträge (Einkommenskanal). Und zum anderen verringert sich der Barwert künftiger Verbindlichkeiten aufgrund der längeren Duration stärker als der Barwert der Vermögenswerte (Bilanzkanal), was nach Solvency II eine Zunahme der Eigenmittel bedeutet. Langfristig sollte sich die Solvenz der Lebensversicherer bei steigenden Zinsen also verbessern.
Allerdings sind auch andere Effekte denkbar. So verringert ein Zinsanstieg aus Sicht der Kunden die Differenz zwischen den garantierten Rückkaufswerten und dem erwarteten Wert der weiteren Beteiligung am Anlageerfolg der Lebensversicherung. In der Folge könnten viele Kunden ihre Verträge kündigen, weil diese ihnen angesichts lukrativer Alternativen nicht mehr attraktiv erscheinen. Das ist vergleichbar mit einer Put-Option, deren innerer Wert entfällt, wenn der Marktzins über den „Basispreis“ des garantierten Mindestzinses steigt. Wie aus der Studie „Rising Interest Rates, Lapse Risk and the Stability of Life Insurers“ hervorgeht, können 90 Prozent aller Verträge europäischer Lebensversicherer mit Abzügen von weniger als 15 Prozent des Vertragswerts gekündigt werden. Sollte es tatsächlich zu einer Kündigungswelle kommen, wäre das ein erhebliches Risiko für die Liquidität und Solvenz der Versicherer. [3]