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27
05
2021

Nullzinskrise bei den Lebensversicherungen. Teil 5: Das Risiko eines Zinsanstiegs.

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Anhaltende Niedrigzinsen sind ein systemisches Risiko der Lebensversicherungsbranche. Doch was würde im umgekehrten Fall passieren, wenn die Zinsen (stark) steigen? Auch dieses Szenario, das künftig eintreten könnte, wurde in Studien untersucht.

Die Ausgangssituation

Die aktuelle Niedrigzinsphase herrscht schon so lange vor, dass sie beinahe zur neuen Normalität geworden ist. Doch aus der Vergangenheit wissen wir, dass früher oder später jedes Regime wieder abgelöst wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Szenario möglicher Zinserhöhungen bereits im Jahr 2017 auf der Agenda stand, wie eine damalige Umfrage unter Aufsichtsbehörden ergab. [1]

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass steigende Zinsen stabilisierend wirken sollten. Ganz nach dem Motto: „Wenn anhaltende Niedrigzinsen ein systemisches Risiko der Lebensversicherungsbranche sind, dann müsste das Gegenteil doch positiv sein – oder?“. Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Der Ausgangspunkt unserer weiteren Betrachtung ist die bisherige Entwicklung. Eine Studie der Bundesbank beschreibt zwei Trends mit gegenläufigen Effekten, die seit dem Jahr 2008 zu beobachten waren [2]:

Die Lebensversicherer haben ihre Asset-Duration von 4,8 (in 2008) auf 8,9 Jahre (2017) fast verdoppelt. Das Ziel: Im Niedrigzinsumfeld die Durationslücke zu den langfristigen Verbindlichkeiten zu verringern. Die über den Bilanzkanal erhöhte Zinssensitivität aber bedeutet auch, dass die Anfälligkeit gegenüber möglichen Zinssteigerungen zugenommen hat.
Der andere Trend war ein Anstieg der Puffer durch Bewertungseffekte sowie reduzierte Gewinnbeteiligungen für Kunden und Aktionäre. Zudem wurden die deutschen Lebensversicherer über Reformen entlastet.

Zinsanstieg - Verschiedene Effekte

Wie im Niedrigzinsumfeld ergeben sich auch für den Fall von Zinssteigerungen zwei Effekte. Zum einen erhöhen sich die bei Reinvestition in festverzinsliche Wertpapiere erzielten Erträge (Einkommenskanal). Und zum anderen verringert sich der Barwert künftiger Verbindlichkeiten aufgrund der längeren Duration stärker als der Barwert der Vermögenswerte (Bilanzkanal), was nach Solvency II eine Zunahme der Eigenmittel bedeutet. Langfristig sollte sich die Solvenz der Lebensversicherer bei steigenden Zinsen also verbessern.

Allerdings sind auch andere Effekte denkbar. So verringert ein Zinsanstieg aus Sicht der Kunden die Differenz zwischen den garantierten Rückkaufswerten und dem erwarteten Wert der weiteren Beteiligung am Anlageerfolg der Lebensversicherung. In der Folge könnten viele Kunden ihre Verträge kündigen, weil diese ihnen angesichts lukrativer Alternativen nicht mehr attraktiv erscheinen. Das ist vergleichbar mit einer Put-Option, deren innerer Wert entfällt, wenn der Marktzins über den „Basispreis“ des garantierten Mindestzinses steigt. Wie aus der Studie „Rising Interest Rates, Lapse Risk and the Stability of Life Insurers“ hervorgeht, können 90 Prozent aller Verträge europäischer Lebensversicherer mit Abzügen von weniger als 15 Prozent des Vertragswerts gekündigt werden. Sollte es tatsächlich zu einer Kündigungswelle kommen, wäre das ein erhebliches Risiko für die Liquidität und Solvenz der Versicherer. [3]

There might be times when policyholders want to terminate their insurance policies in large numbers [...]. Authorities should be able to protect financial markets [...] from the adverse impact of such an exceptional run on insurers.
‍Mario Draghi, Introductory statement, Hearing before the Committee on Economic and Monetary Affairs of the European Parliament, 26 November 2018.

Weitere Risiken

Hinzu kommt, dass vor allem Verträge mit vergleichsweise niedrigen Garantien gekündigt würden. In der Folge würde sich also der durchschnittliche verbleibende Garantiebestand erhöhen – und damit die relativen Kapitalanforderungen.

Weiterhin könnte ein starker Zinsanstieg dazu führen, dass der Wert der Kapitalanlagen unter den vom Marktzins unabhängigen Rückkaufswert der Policen fällt. [4] Werden diese dann gekündigt, verringern sich die Eigenmittel und die Solvenz des Versicherers. Zudem würden die Anleihen, die zur Bedienung der Rückkäufe liquidiert werden, angesichts der höheren Zinsen wahrscheinlich mit Verlust verkauft – und je länger die Laufzeiten dieser Anleihen, desto größer der Verlust. Die nachfolgende Grafik zeigt die im Modell ermittelten kritischen Zinsniveaus der 55 größten deutschen Lebensversicherer bis zum Jahr 2017. Oberhalb der entsprechenden Niveaus würde der Marktwert der jeweiligen Aktiva nicht mehr ausreichen, um die Rückkaufswerte der Kunden und sonstige Verbindlichkeiten zu decken. Die kritischen Zinsniveaus beziehen sich auf Bundesanleihen mit einer Restlaufzeit von zehn Jahren und unterstellen eine parallele Verschiebung der gesamten Zinskurve nach oben. Die äußeren Linien beginnen am 5. und 95. Perzentil. Die inneren Kästchen zeigen den Median sowie das 25. und 75. Perzentil. Die untere Linie zeigt die jeweilige Rendite von Bundesanleihen mit einer Restlaufzeit von zehn Jahren.

Lebensversicherungen - kritische Zinsniveaus
Abbildung 1) Kritische Zinsniveaus
Quelle: Förstemann, T. (2019), Lethal Lapses – How a Positive Interest Rate Shock Might Stress Life Insurers, Deutsche Bundesbank, S. 25

Insurance Run

Der eingangs genannten Bundesbank-Studie zufolge besteht ein weiteres Risiko: Wenn die Kunden vieler Lebensversicherer ihre Verträge gleichzeitig kündigen und letztere deshalb viele Vermögenswerte liquidieren – eventuell bis hin zu Notverkäufen –, so könnte das den anfänglichen Schock erheblich verstärken. [2] Darüber hinaus könnten die Versicherer ihre Anlagen von Banken und Investmentfonds abziehen und den Schock auf diese Weise an das gesamte Finanzsystem weitergeben.

Nun könnte man das kollektive Kündigungsrisiko für weit hergeholt halten. Schließlich schlummern gerade in Deutschland viele Milliarden Euro gänzlich ohne Verwendung auf Girokonten, ohne das es die Mehrheit aufschrecken würde. Die Studie nennt jedoch einige Beispiele, in denen es in der Vergangenheit tatsächlich solche „Insurance Runs“ gab. So hatten etwa während der asiatischen Währungskrise im Jahr 1997 einige südkoreanische Lebensversicherungen eine Kündigungsquote von monatlich bis zu 19 Prozent, als die Zinsen extrem stark von zwölf auf 30 Prozent stiegen. 1999 gab es einen Run auf General American Life Insurance, als institutionelle Anleger nach einer Rating-Herabstufung ihre Anlagen abzogen. Und während der Finanzkrise 2008 kam es beim drittgrößten belgischen Versicherer Ethias zu massiven Kündigungen, bis die nationalen Behörden eine Garantie von 100.000 Euro für Einlagen aussprachen. [2] Völlig abwegig ist ein Insurance Run also nicht.

Allerdings können sich die Versicherer auch nicht gegen alle Szenarien gleichzeitig wappnen. Sie müssen sich bei der Kapitalanlage für einen Schwerpunkt entscheiden:

langfristige Anleihen zur Absicherung gegen langfristige Risiken aus ihren Investitionsgarantien oder
kurzfristige Anleihen zur Absicherung gegen kurzfristige Risiken aus den angebotenen Rückkaufswerten

Die Bundesbank präsentiert empirische Evidenz und bestätigt die Erfahrungen aus der Praxis, dass sich Lebensversicherer für die Absicherung langfristiger Risiken aus ihren Anlagegarantien entscheiden und das potenzielle, künftige Kündigungsrisiko in Kauf nehmen. Vielleicht vertraut man darauf, dass die Aufsichtsbehörden im Falle plötzlicher Massenkündigungen regulatorisch eingreifen, indem die Rückkaufswerte zum Beispiel an aktuelle Zinssätze gekoppelt werden. [2]

Fazit

Langfristig sollte sich die Situation der Lebensversicherer mit steigenden Zinsen eher verbessern. Kurzfristig könnte sich eine starke Kündigungswelle aber negativ auswirken und zu plötzlichen Solvenz- und Liquiditätsproblemen führen. Das Risiko hierfür mag in Deutschland angesichts der hohen Bargeldbestände auf Girokonten auf den ersten Blick gering erscheinen, lässt sich aber angesichts historischer Beispiele nicht wegdiskutieren. Allerdings wären im Ernstfall wohl regulatorische Eingriffe zu erwarten, um die Lage in den Griff zu bekommen. Weitere Effekte eines starken Zinsanstiegs könnten aus der Wechselwirkung verringerter Marktwerte der Aktiva, üppiger Garantien aus Altverträgen und der sehr langsamen Anpassung der erzielbaren Renditen an höhere Zinsen resultieren.

Auch insgesamt ist ein Fazit zu ziehen. Die Idee von Lebensversicherungen besteht darin, eine stabile Altersvorsorge mit der Absicherung eines kurzfristigen Liquiditätsbedarfs im Notfall zu kombinieren. Allerdings bekommt dieses Modell immer mehr Risse. So haben sich die Versicherer in früheren Zeiten mit hohen Garantien verkalkuliert und auch deshalb das systemische Risiko der aktuellen Niedrigzinsphase mit verursacht. Weiterhin haben Studien gezeigt, dass sich ein Umfeld schnell steigender Zinsen ebenfalls als schwierig erweisen könnte. Es scheint beinahe so, als müsste man sich – etwas überspitzt formuliert – das ideale Szenario erst ausdenken, bei dem Lebensversicherungen wieder in dauerhaft ruhiges Fahrwasser geraten. Angesichts zunehmend schneller wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Veränderungen steht deshalb ein grundsätzliches Fragezeichen: Ist die klassische Lebensversicherung noch zeitgemäß?

Quellen

[1] Löfvendahl, G. / Yong, J. (2017), Insurance Supervisory Strategies for a Low Interest Rate Environment, Financial Stability Institute Insights on Policy Implementation No 4, Bank for International Settlements
[2] Förstemann, T. (2019), Lethal Lapses – How a Positive Interest Rate Shock Might Stress Life Insurers, Deutsche Bundesbank
[3] Berdin, E. / Gründl, H. / Kubitza, C. (2017), Rising Interest Rates, Lapse Risk and the Stability of Life Insurers, International Center for Insurance Regulation Working Paper Series, Nr. 29/17
[4] Deutsche Bundesbank (2019), Financial Stability Review 2019, S. 11
[5] National Association of Insurance Commissioners (2011), The Treasury Yield Curve and Its Impact on Insurance Company Investments, https://www.naic.org/capital_markets_archive/110422.htm, Zugriff am 13.01.2021

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