Komplexe Algorithmen und Machine-Learning-Modelle funktionieren gut, wenn sie in einer stabilen Welt arbeiten. Ein gutes Beispiel ist Schach, wo die Regeln morgen so sind so wie heute und gestern. Gegen einen Computer hat ein menschlicher Entscheider hier schon lange keine Chance mehr. Doch an der Börse sieht die Sache anders aus. Hier herrschen erschwerte Bedingungen: Hohe Komplexität, schlechtes Signal to Noise Ratio, Regime Shifts, Überschussvolatilität und Fat Tails verursachen menschlichen Entscheidern wie Algos erhebliche Probleme.
Wie können Anleger grundsätzlich bessere Entscheidungen treffen?
Prof. Artinger: Viele Menschen neigen dazu, in komplexen, hochdynamischen Systemen nach ebenso komplexen Lösungen zu suchen. Doch an den Finanzmärkten ist es hilfreich, die Komplexität stattdessen zu reduzieren und sich nur auf wenige, möglichst einfache Kriterien zu fokussieren. Das ermöglicht es gleichzeitig, ein besseres Verständnis zu entwickeln – und auch bessere Entscheidungen zu treffen. Eine Standardlösung gibt es dabei aber nicht. Denn die Entscheidungen sollten sich an individuellen Anlagezielen orientieren und dabei vor allem die Risikopräferenzen des Einzelnen einbeziehen.
An den Finanzmärkten ist es hilfreich, die Komplexität zu reduzieren und sich nur auf wenige, möglichst einfache Kriterien zu fokussieren.
Haben Sie ein Beispiel, wie eine einfache Lösung aussehen kann?
Prof. Artinger: Ja, ein ziemlich bekanntes Beispiel sogar. Harry Markowitz, der Begründer der modernen Portfoliotheorie, folgte bei seinen eigenen Anlageentscheidungen nicht dem von ihm entwickelten Mean-Variance-Modell. Stattdessen wandte er die einfache 1/N-Heuristik an und investierte sein Geld zu gleichen Teilen in verschiedene Aktien. Er tat dies intuitiv, und das stellte sich als cleverer Ansatz heraus: Wie spätere Studien zeigten, konnten auf diese Weise langfristig tatsächlich bessere Renditen erzielt werden als mit dem Mean-Variance-Modell oder dessen moderner Varianten.
Intuition ist ein gutes Stichwort. Erfahrene Experten wissen intuitiv, worauf sie sich konzentrieren müssen und was sie ignorieren können. Aber kann Intuition auch am Finanzmarkt funktionieren?
Prof. Artinger: Auf mittel- und langfristigem Anlagehorizont zeigt sich, dass Experten durchaus in der Lage sind, die relevanten Signale herauszufiltern. Zudem können sie gute Heuristiken identifizieren und diese clever miteinander kombinieren. Auf diese Weise ist es auch möglich, dass menschliche Entscheider besser performen als ein Algo. Das gilt vor allem in weniger kompetitiven Bereichen und Nischen des Marktes. Trotzdem spielt bei der objektiven Beurteilung einzelner Ergebnisse an den Märkten immer auch der Zufall eine Rolle.
Experten sind durchaus in der Lage, die relevanten Signale herauszufiltern.
Was ist der Unterschied zwischen guter Intuition und bloßem Bauchgefühl – und wie viel Erfahrung braucht es, das eine vom anderen zu unterscheiden?
Prof. Artinger: Um Intuition zu entwickeln, braucht es einen Lernprozess mit Erfolgen und Misserfolgen. Mit Bauchgefühl ist dagegen eher die initiale Reaktion eines unerfahrenen Anlegers gemeint. Vorteilhafte intuitive Filter basieren also immer auf umfangreichen Erfahrungswerten. Und mit zunehmender Erfahrung nimmt auch der negative Einfluss klassischer Behavioral-Finance-Effekte auf die Anlageergebnisse ab, wenn man ähnliche Situationen bereits mehrfach erlebt und daraus gelernt hat. Es braucht allerdings Zeit, die richtige Lernumgebung sowie im Idealfall ein professionelles Mentoring oder Coaching, um diesen Prozess zu beschleunigen. So wie die Menschen vor langer Zeit durch soziale Interaktion lernten, welche Beeren giftig sind und welche nicht, lernen wir heute, uns an den Märkten angemessen zu verhalten.
Man sagt, die besten, aber auch die schlechtesten Anleger seien diskretionäre Entscheider. Wie sehen Sie die Erfolgsaussichten von Mensch und Algo im Vergleich?
Prof. Artinger: Sicherlich ist die Streuung der Ergebnisse bei menschlichen Entscheidern insgesamt größer als bei Algorithmen. Einsteiger, die nur nach Bauchgefühl entscheiden, werden wohl schlecht abschneiden, und erfahrene Anleger mit einfachen, systematischen Wenn-Dann-Regeln und Prozessen wahrscheinlich gut. Eine Systematik schützt vor allem vor Fehlern und bietet einen vorgefertigten Plan, an dem man sich orientieren kann. Und das ist schon recht nah an den Algorithmen dran. Am besten wäre aber die Kombination von beidem, was wir als Augmented Intelligence bezeichnen.
Können Sie das bitte genauer erklären?
Prof. Artinger: Gemeint sind damit einfache, transparente Algorithmen, die Menschen verstehen und interpretieren können. Diese werden dann bewusst im Rahmen eines bestimmten Marktumfelds angewandt. Gleichzeitig behält ein Experte den Überblick und kann eingreifen, wenn sich die Rahmenbedingungen deutlich verändern, etwa durch einen Strukturbruch am Markt. So könnte eine funktionierende Kombination von Mensch und Algo bei Handelsstrategien aussehen.
Augmented Intelligence ist eine funktionierende Kombination von Mensch und Algo.
Für diese Kombination braucht es Expertise. Bedeutet das für den durchschnittlichen Anleger, dass Algos im Vergleich zu eigenen Entscheidungen die bessere Lösung sind?
Prof. Artinger: Für die breite Masse der Anleger wären regelbasierte, systematische Anlageentscheidungen sicherlich optimal. Wichtig sind dabei natürlich auch niedrige Kosten, Diversifikation und ein ausreichend langer Anlagehorizont. Im einfachsten Fall kann ein „Algo“ aber schon darin bestehen, regelmäßig über einen Sparplan in ETFs zu investieren. Für weitergehende Strategien braucht es die richtigen Werkzeuge sowie ein ausgeprägtes statistisches Verständnis. Als eine Grundlage dafür haben wir zusammen mit einem Partner eine kleine Simulationswelt entwickelt, in der Anleger in wenigen Minuten die Auswirkungen ihrer Entscheidungen nachvollziehen und besser verstehen können.
Warum sollten Algos an den Finanzmärkten möglichst einfach sein?
Prof. Artinger: Komplexe Algorithmen unterliegen grundsätzlich dem Problem, dass sie stark auf die Vergangenheit angepasst sind (Overfitting). Das Signal to Noise Ratio ist an den Märkten ohnehin relativ schlecht, und durch dieses Overfitting geht es erst recht im Rauschen der einzelnen Parameter unter. Der Grund sind die hohen Schätzfehler, die in Summe letztlich alles überlagern und kein zuverlässiges Signal mehr erkennen lassen. Im Vergleich dazu sind einfache Modelle besser und stabiler, da sie weniger Scheinmustern aufsitzen und mehr Noise ignorieren. Zudem sind sie aus Sicht menschlicher Entscheider transparenter, was ebenfalls ein Vorteil ist, sollte man über einen Eingriff nachdenken. Der einzige Vorteil komplexer Algorithmen scheint dagegen darin zu bestehen, dass sie sich besser verkaufen lassen (lacht). Aber natürlich gibt es auch hier Ausnahmen: Auf sehr kurzfristigen Zeitebenen mit vielen Daten oder gut quantifizierbaren Zusammenhängen wie High Frequency Trading oder statistischer Arbitrage sind komplexe Algorithmen sicherlich die beste Wahl.
Einfache Algos sind aber nicht automatisch auch leicht zu entwickeln, oder?
Prof. Artinger: Keineswegs. Dafür ist eine Menge Expertise notwendig. Zudem sollen die Regeln zwar so einfach wie möglich sein, aber eben auch nicht einfacher als das. In der Praxis werden deshalb oft mehrere einfache Modelle parallel genutzt, die jeweils auf ein bestimmtes Marktverhalten passen, während Experten gleichzeitig darauf achten, dass die notwendigen Rahmenbedingungen weiterhin intakt sind. Die Regeln sollten so einfach wie möglich sein, aber auch nicht einfacher.
Kann ein Mensch bei Fehlentscheidungen schneller umdenken und korrigieren?
Prof. Artinger: Auf jeden Fall. Manche Algorithmen brauchen Monate oder sogar Jahre an Daten, um auf bestimmte Veränderungen zu reagieren. Ein Mensch ist viel schneller. Zum Beispiel konnte man schon recht früh im Corona-Crash im Frühjahr 2020 eingreifen, dass sich die Rahmenbedingungen gegenüber der vorherigen Marktphase plötzlich deutlich verändert hatten.
Eine moderne Alternative zu klassischen Algos sind Machine-Learning-Modelle, die fortlaufend und selbstständig Korrelationen und Muster der Vergangenheit lernen. Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten dieser „Black Boxes“ an den Märkten ein?
Prof. Artinger: Ich denke, dass Machine Learning abseits sehr kurzfristiger Zeitrahmen ziemlich schlechte Karten hat. Denn die Märkte unterliegen grundsätzlich einer hohen Unsicherheit, die per Definition – anders als bloßes Risiko – nicht quantifizierbar ist. Allerdings ist es genau das, was Machine Learning versucht: Eine Quantifizierung.