Artikel von David Pieper, Mitgründer & Systematic Strategies Specialist von Intalcon GmbH
Warum wir immer wieder in die Falle tappen
Der Börsenhandel ist von außen betrachtet keine komplizierte Sache: Wenige Klicks genügen und schon partizipiert man an der Entwicklung eines Marktes oder Wertpapiers. Jeder, der sich ernsthaft mit den Mechanismen der Märkte im Detail befasst hat, weiß jedoch, dass es sich um ein komplexes und dynamisches System handelt. Die dabei entstehende Informationsflut kann das menschliche Gehirn nicht bewältigen. Die einzige Möglichkeit, diesen Informations-Overflow Herr zu werden und die Komplexität zu reduzieren, ist der Einsatz sogenannter Heuristiken. Der Mensch bedient sich – bewusst und unbewusst – zahlreicher Daumenregeln, die Informationen generalisieren, verzerren oder ganz ausblenden. Das Ziel lautet schließlich: mit wenig Aufwand schnell zum Ergebnis bzw. einer Entscheidung zu kommen.
Der Einsatz dieser Heuristiken, die häufig zu irrationalen Entscheidungen führen, ist der Hauptgrund für die schlechte Performance vieler Händler. Verluste laufen zu lassen und Gewinner-Trades vorzeitig zu schließen gehören zu den klassischen Fehlern. Um einen Vergleich zwischen diskretionären und systematischen Händlern zu erstellen, werfen wir zunächst einen Blick auf den diskretionären Handel.
Diskretionäres Trading – Flexibel, aber subjektiv
Der diskretionäre Ansatz beschreibt einen Handelsstil, bei dem die Urteilskraft und Intuition des Händlers im Vordergrund steht. Der Mensch ist es, der die Märkte laufend beobachtet und analysiert – sei es mithilfe von Nachrichten, Charts oder fundamentalen Daten. Die Analyse und Ableitung von Handelsentscheidungen basiert auf Regeln, die allerdings von Situation zu Situation variabel angewandt werden können, indem z.B. Analyseinstrumente ausgetauscht oder Parametereinstellungen modifiziert werden. Mit dieser Vorgehensweise gewinnt der diskretionäre Händler an Spielraum und schafft damit die notwendige Flexibilität, sich an die herrschende Marktsituation anzupassen.
Dieser zentrale Vorteil, der auch als Argument gegen den systematischen Handel ins Feld geführt wird, hat allerdings eine Kehrseite: Gerade bei weniger erfahrenen Händlern besteht eine hohe Gefahr, dass die unterschiedliche Anwendung der Handelsregeln von Situation zu Situation zu Fehlentscheidungen führt, die negative Auswirkungen auf die Performance haben. Schauen wir uns einige der klassischen Renditekiller an, die bei diskretionären Händlern zu beobachten sind.
Selbstüberschätzung
Händler (wie Menschen allgemein) überschätzen häufig Ihre eigene Leistung bzw. ihr Wissen und neigen daher oftmals zu erhöhten Risiken. Der Klassiker: Ein Händler eröffnet einen Trade mit einer viel zu großen Positionsgröße, weil er sich quasi „sicher“ ist, dass dieser Trade aufgehen wird. Er setzt damit sein Money Management bewusst außer Kraft – meist mit verheerenden Folgen.
Angst
Der Faktor Angst spielt eine große Rolle beim Handel. Zum Beispiel die Angst, Geld zu verlieren. Dies kann sich in vielerlei Formen beim Handel zeigen, z.B. dass der Händler nach einigen Verlusttrades nicht mehr in der Lage ist, neue Trades einzugehen – selbst, wenn diese sehr aussichtsreich erscheinen. Diese Angst zeigt sich auch beim Trendfolgehandel, wo z. B. im Gewinn stehende Positionen nach einer kleinen Korrektur veräußert werden, obwohl der Trend weiter nach oben zeigt. Paradoxerweise kann die Angst vor Verlusten sogar dazu führen, dass keine Stopps gesetzt werden – nach dem Motto „solange die Position nicht ausgestoppt ist, sind es nur Buchverluste“. Es gibt aber auch die Angst, einen Gewinn zu verpassen (FOMO, fear of missing out). Diese führt dazu, dass Händler Positionen eingehen, die nicht ihrem Handelsplan folgen, sondern ausschließlich der Angst geschuldet sind, etwas zu verpassen. Die Gier, einen schnellen Profit zu verpassen, geht hier also Hand in Hand mit der Angst.
Hoffnung
Dass Hoffen und Beten keinen Platz im Trading haben, sollte jedem Händler klar sein. In der Praxis ist der Hoffnungsmodus leider oft zu beobachten. So werden z.B. Long-Positionen, die in einem intakten Abwärtstrend stecken, dennoch weiter gehalten oder – noch schlimmer – mit Nachkäufen vergrößert. Warum? Weil Händler darauf hoffen, dass der verbilligte Einstiegskurs bei einer Erholung schnellere Gewinne oder zumindest einen Break-even-Ausstieg ermöglichen wird.
Fassen wir zusammen: Viele der Heuristiken, die wir uns im Laufe der Evolution eingeprägt haben, sind in der modernen Welt – und damit an den Finanzmärkten – fehl am Platz. Das gilt insbesondere für das diskretionäre Trading, weil hier der Mensch mit all seinen Schwächen (zu) große Freiheiten genießt. Bleibt also nur noch eine Alternative, um den Neandertaler in uns zu zähmen: der systematische Handel. Anders als beim diskretionären Handel, übergibt der Mensch die Entscheidungshoheit bei dieser Form des Tradings an einen Algorithmus.
Systematisches Trading – objektiv und emotionslos
Systematisch zu handeln bedeutet, nach klar definierten, objektiven Regeln zu handeln und diese ohne Zweifel zu befolgen – und zwar ohne Ausnahme. Ist also eine Strategie einmal festgezurrt, haben menschliche Emotionen keinen Platz mehr beim Handel. Die Argumente, die für den systematischen Ansatz sprechen, sind nicht von der Hand zu weisen:
- Menschen können je nach physiologischem Zustand oder Umwelteinflüssen bei gleichen Fakten zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen. Algorithmen haben dieses Problem nicht.
- Menschen verlassen sich auf Heuristiken, die nicht immer sinnvoll und empirisch fundiert sind. Algorithmen verlassen sich dagegen ausschließlich auf Fakten.
- Menschen zeigen Overconfidence und Überoptimismus. Algorithmen kennen diese Zustände nicht, sie kennen keine Emotionen und besitzen kein Ego.
Der größte Vorteil liegt eindeutig auf der psychologischen Ebene: Das systematische Trading bietet eine hohe Entscheidungssicherheit, sodass der Händler weniger anfällig für kognitive Fehlentscheidungen ist. Durch die klaren Vorgaben für den Ein- und Ausstieg sorgt der systematische Ansatz auch für Konsistenz beim Trading. Darüber hinaus reduziert sich der Zeitaufwand für die Analyse und Entscheidungsfindung beim systematischen Handel auf ein Minimum, wenngleich nicht verschwiegen werden darf, dass die Entwicklung einer Handelsstrategie viel Zeit in Anspruch nehmen kann.
Wie sieht die Realität aus?
Allen Vorteilen zum Trotz – jeder, der bereits Erfahrungen mit dem systematischen Handel von Wertpapieren gesammelt hat, dürfte bestätigen, dass auch dieser Handels-Stil nicht ganz frei von Emotionen ist. Sie existieren weiterhin, nur in einer anderen Form. So fließen unsere Erwartungen und Emotionen bereits bei der Entwicklung und beim Test einer Handelsstrategie mit ein. Am größten ist der Einfluss aber bei der Umsetzung der Strategie selbst. Die nachfolgenden Beispiele beschreiben typische Situationen, bei denen systematische Händler früher oder später in Konflikt mit ihren Emotionen geraten.
Live-Schaltung der Handelsstrategie nach Demo-Handel
Nach der Entwicklung und Validierung der eigenen Handelsstrategie folgt vor dem Beginn des Live-Handels eine Demo-Handelsphase. Hierbei werden alle Trades, die die Handelsstrategie vorgibt, im Demokonto – und damit risikolos – umgesetzt. Nach Absolvierung einer bestimmten Anzahl von Trades steht der Händler vor der Entscheidung, wann genau er die Strategie „scharf“ schalten möchte. Und hier kommen bereits Emotionen ins Spiel. Stellen wir uns vor, die Strategie befindet sich in einem steilen Aufwärtstrend. Sollte man hier direkt loslegen, wenngleich eine Schwächephase alles andere als überraschend wäre? Oder macht es vielleicht Sinn, noch etwas abzuwarten und erst nach einer Verlustphase mit dem Handel der Strategie zu beginnen? Ein klassischer Fall von Unsicherheit und damit ein Einfallstor für subjektive Entscheidungen.
Starke Gewinnphase vs. Positionsgröße
Eine andere Situation, die zunächst alles andere als problematisch klingt, ist gegeben, wenn die gehandelte Strategie von Erfolg gekrönt ist und damit das Konto von Hoch zu Hoch springen lässt. Je länger dieser Zustand anhält, umso größer wird die Verlockung, die Positionsgröße zu erhöhen. Obwohl also im Backtest alles haarscharf festgelegt wurde – die Gier nach höheren Renditen kann sich sehr stark auf die Emotionslage des systematischen Händlers auswirken und für Fehlentscheidungen sorgen.
Auslassen von Handelssignalen
Die Vorzüge des systematischen Handels kommen nur zum Tragen, wenn der Händler seinem System folgt, und zwar ohne Ausnahme. Bei extremen Marktbewegungen im Rahmen wichtiger Ereignisse ist dieses Gebot allerdings schwer einzuhalten. So sind Händler oftmals geneigt, in solchen Situationen ihren Gefühlen zu folgen und aus Angst dem Markt fernzubleiben. Anstatt also dem Regelwerk eins zu eins zu folgen, versuchen sie stattdessen, diskretionär in das mechanische System einzugreifen, um (vermeintlich) bessere Ergebnisse zu generieren. Insbesondere bei Trendfolgestrategien, deren Gewinne oftmals auf wenigen hochprofitablen Transaktionen beruhen, kann das Auslassen einzelner Trades allerdings fatale Folgen für die Performance haben.
Antizipation von Trades
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Handelsstrategie, die einen bestimmten Einstieg vorgibt, z. B. zum Handelsende, wenn die laufende Kerze positiv schließt. Hin und wieder gerät der systematische Händler auch in diesen Situationen in die emotionale Falle, indem er versucht, den Einstieg vorzuziehen, um noch ein paar Punkte mehr „herauszupressen“. Ein weiteres Beispiel in dieser Kategorie ist beim Stopp-Management zu beobachten. Stellen Sie sich vor, Sie platzieren einen Long-Trade und wenig später sorgen negative News für einen Einbruch am Markt, die Vola zieht massiv an. Obwohl der systematische Händler weiß, dass er seinem Regelwerk vertrauen muss und keine Eingriffe durchführen sollte, besteht hier die Verlockung, den laufenden Trade vorzeitig aus dem Rennen zu nehmen oder den vorgegebenen Stopp enger nachzuziehen, um die – quasi gedanklich vorweggenommenen – Verluste der Position zu reduzieren. Dass der Händler damit in beiden Fällen in seine eigentliche Handelsstrategie eingreift, ist ihm dabei nicht wirklich bewusst, weil er davon überzeugt ist, sein „Mehrwissen“ zugunsten der Performance einzubringen.
Genau diese gut gemeinten Eingriffe sind es dann, die in der Regel die Performance zerstören und ganz nebenbei wieder den alten Kreislauf aus Unsicherheit, Misstrauen und erneuten diskretionären Eingriffen befeuern.
Drawdown-Phase
Eine typische Situation, in der systematische Händler in Konflikt mit ihren Gefühlen geraten, betrifft das Abschalten einer Handelsstrategie nach einer Drawdown-Phase. Stellen wir uns vor, dass eine Handelsstrategie über Monate oder gar Jahre hinweg solide und stabile Ergebnisse bringt. Es beginnt eine heftige Drawdown-Phase und die Kapitalkurve rutscht massiv nach unten – eine neue Erfahrung für den erfolgsverwöhnten Händler (siehe Bild 3 links). Genau an dieser Stelle besteht eine hohe Gefahr, die Handelsstrategie aus Angst vor weiteren Verlusten vorzeitig abzuschalten. Alternativ könnte sich der systematische Händler gezwungen fühlen, die Parameter der Strategie neu zu justieren, um diese wieder „auf Erfolgsspur“ zu bringen. Beide Entscheidungen bergen ein hohes Fehlerpotenzial aufgrund der darin involvierten Unsicherheit, die wiederum Emotionen beim Händler weckt.
Emotionen beobachten, Handlungen kontrollieren
Solange der Händler aus Fleisch und Blut Entscheidungen treffen muss, z. B. den Umgang mit Drawdowns, bleiben gewisse Emotionen im Spiel. Ob man also als diskretionärer oder systematischer Händler agiert – Disziplin ist und bleibt der Schlüssel zum Erfolg. Um nachteilige Verhaltensweisen erkennen zu können, sollten Händler daher stets ihre Emotionen im Blick behalten und diese aktiv wahrnehmen, anstatt diese zu ignorieren oder zu verdrängen. Die Emotion an sich lässt sich nicht kontrollieren, die Handlung sehr wohl. Klare Handelsregeln können hier also wertvolle Dienste leisten, ebenso bietet der parallele Handel mehrerer Handelsstrategien für systematische Händler einen Vorteil: Aufgrund der steigenden Komplexität bei der Umsetzung der Signale wird es umso schwerer für den Händler, sich nicht an die exakten Regeln zu halten – eine einfache, disziplinierende Maßnahme also. Eine wichtige psychologische Stellschraube bietet auch die Wahl der Positionsgröße: Solange der Händler Nervosität oder Ängste verspürt, sollte diese weiter reduziert werden, um Emotionen zu verringern und gleichzeitig die Disziplin zu steigern. Mit einem müssen wir uns aber abfinden: Handeln ohne Emotionen ist nicht möglich.