Behavioral Finance = Ökonomie + Psychologie
Der noch relativ junge Forschungszweig der Behavioral Finance, der Ökonomie mit Psychologie verknüpft, setzt genau hier an. Der Psychologe Amos Tversky hat mit dem späteren Ökonomie-Nobelpreisträger Daniel Kahneman die Grundlagen für die verhaltensorientierte Kapitalmarktforschung gelegt. Die Wissenschaftler machten Verhaltensmuster transparent, die bis dahin von den Verfechtern rationaler Entscheidungen ignoriert wurden. Diese Verhaltensmuster entstehen, weil das logische Denken - insbesondere in Situationen der Unsicherheit - häufig von Gefühlen überlagert und außer Kraft gesetzt wird. Nicht nur für Wissenschaftler, sondern gerade für Anleger und Trader lohnt daher ein genauer Blick hinter die Kulissen des menschlichen Handelns.
Warum sich der Mensch selbst im Weg steht
Zu den wichtigsten Ursachen für das irrationale Verhalten gehören - neben der Gehirnarchitektur selbst - psychologische Beweggründe. Zum einen möchte der Mensch seine eigene Lage und die der unmittelbaren Umwelt so gut wie möglich unter Kontrolle halten. Weshalb hat der Mensch ein Kontrollbedürfnis? Die Theorie des Kontrollmotivs geht davon aus, dass jeder Mensch das Bedürfnis hat, sich als Verursacher von Veränderungen seiner Umwelt wahrzunehmen, genauer gesagt: Ein Bedürfnis, der Überzeugung zu sein, Kontrolle über seine Umwelt und sein Handeln zu besitzen. Hierdurch entsteht das Gefühl der Kompetenz und eigener Wertschätzung, was zu einer Steigerung des Selbstwerts führt. Ein Verlust der Kontrolle kann dagegen schwerwiegende negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden haben.
Ein klassisches Beispiel für das Kontrollmotiv:
Viele Trader, aber auch Analysten wollen mit aller Gewalt die zukünftige Kursentwicklung voraussagen, statt einfach dem jeweiligen Markt zu folgen und sich bei Bedarf schnell anzupassen. Die krampfhafte Suche nach dem perfekten Einstieg und Ausstieg ist schließlich unmöglich ist – und auch gar nicht nötig, um an den Märkten Geld zu verdienen.
Um dieses Kontrollbedürfnis befriedigen zu können, ist eine Auflösung sogenannter kognitiver Dissonanzen, die nach einer Entscheidung entstehen können, notwendig. Diese treten dann auf, wenn der Mensch bemerkt, dass eine getroffene Entscheidung ungünstig war. Ist dies der Fall, lässt sich die Dissonanz auf zwei Wegen verringern. Entweder wird die Entscheidung - in der rationalen Variante - revidiert oder man „korrigiert“ seine Einstellung mittels selektiver Wahrnehmung so, dass die Entscheidung anscheinend nicht mehr im Widerspruch zur Realität steht. Beispielsweise neigen Anleger dazu, schlechte Nachrichten zu einer Aktie, die sie im Depot haben, herunterzuspielen, während positive Informationen übergewichtet werden.
Vereinfachen und schnell urteilen – Heuristiken
Menschen, die sich am Börsengeschehen beteiligen, stehen häufig vor der schwierigen Aufgabe, in kurzer Zeit aus der Menge der Informationen richtige Schlüsse zu ziehen. Behavioral Finance beschäftigt sich daher intensiv mit der Anwendung von Daumenregeln, den sogenannten Heuristiken. Es handelt sich dabei um einen Automatismus, der zur Reduzierung der Komplexität sowie zu einer schnellen - oftmals aber nicht optimalen - Urteilsfindung eingesetzt wird. Dies kann sowohl bewusst als auch unbewusst geschehen. Nachfolgend werden die wichtigsten Heuristiken beschrieben.
Mentale Buchführung
Mit mentaler Buchführung wird die Gewohnheit des Menschen bezeichnet, die mögliche Abhängigkeit zwischen den einzelnen in Frage kommenden Engagements und Projekten zu vernachlässigen. Menschen haben daher nicht die Gesamtheit aller Projekte und deren Auswirkungen im Kopf, sondern führen mehrere separate, sogenannte „mentale“ Konten. Wird z.B. das Engagement in Aktie A und Aktie B (Annahme: Aktien weisen keine Korrelation auf) isoliert voneinander bewertet, könnte sich der Anleger aufgrund des hohen Risikos der beiden einzelnen Aktien dazu entschließen, von einem Investment abzusehen. Dabei übersieht er natürlich den Diversifikationseffekt und verschenkt mögliche Gewinnchancen.
Beispiel für mentale Buchführung
Fall A: Herr Mustermann hat eine Theaterkarte zum Preis von 100 Euro erworben. Vor dem Theaterhaus angekommen, stellt er fest, dass er die Karte verloren hat. An der Kasse gibt es noch Karten der gleichen Preisklasse. Wird Herr Mustermann eine neue Karte kaufen?
Fall B: Herr Mustermann hat sich eine Theaterkarte an der Abendkasse reservieren lassen. Vor dem Theaterhaus angekommen, stellt er fest, dass er 100 Euro aus seinem Geldbeutel verloren hat. Wird er die Karte kaufen, wenn er noch genügend Geld dabei hat?
Aus ökonomischer Sicht sind beide Fälle identisch. Empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Mehrheit der Befragten im Fall A von einem Theaterbesuch absieht, im Fall B die reservierte Eintrittskarte einlöst. Man erkennt an diesem Beispiel, dass durch das Führen zweier separater Konten („Theaterkonto“ und „Geldkonto“) das Entscheidungsverhalten in einer ökonomisch identischen Situation unterschiedlich sein kann.
Wie uns Erfahrungen und Zufallszahlen beeinflussen
Zur Reduzierung der Komplexität eines Sachverhalts wird auch die Verfügbarkeitsheuristik eingesetzt. So hält ein Anleger, der bereits einen Aktienmarktcrash miterlebt hat, die Wahrscheinlichkeit eines Kurseinbruchs für viel höher als ein Anleger, der bisher keine derartigen Erfahrungen gesammelt hat.
Um schnell zu einem Urteil zu kommen, erfolgt häufig der Rückgriff auf den Ankereffekt. So wird die Neigung der Menschen bezeichnet, ihre Einschätzungen mit - oftmals willkürlichen und daher falschen - Referenzwerten ihres Gedächtnisses zu verknüpfen. Dies geschieht insbesondere dann, wenn bestimmte Informationen nicht sofort eingeordnet und bewertet werden können. Bei Kursprognosen dienen meist „runde“ Kursniveaus, Höchst- oder Tiefstkurse oder das aktuelle Niveau als Anker. Die Orientierung an einem willkürlichen - und damit falschen - Bezugspunkt verhindert eine neutrale Bewertung und führt daher oftmals zu Fehlentscheidungen. Der Ankereffekt ist auch beim täglichen Einkaufen zu beobachten: Hier dient die unverbindliche Preisempfehlung des Herstellers, die meist vom jeweiligen Händler unterboten wird, als Anker für den Kaufinteressenten.
Beispiel für den Ankereffekt:
In einem Experiment wurden Probanden befragt, wie hoch sie den prozentualen Anteil der afrikanischen Staaten an den Vereinten Nationen schätzen. Dazu wurden sie in mehrere Gruppen eingeteilt.
Vor dem Beantworten der Frage wurde jeder Gruppe eine Zufallszahl zwischen 0 und 100 präsentiert. Anschließend mussten die Versuchspersonen angeben, ob ihre Schätzung über oder unter der Zufallszahl lag.
In einem weiteren Schritt wurden die Teilnehmer des Experiments nach der konkreten Zahl befragt.
Hierbei zeigte sich, dass die vom Glücksrad zufällig ermittelte Zahl eine deutliche Auswirkung auf das Resultat hatte: In der Gruppe, bei der die Zufallszahl 10 lautete, betrug die Antwort 25 %. Die andere Gruppe, bei der die Zufallszahl 65 ermittelt wurde, kam auf einen deutlich höheren Wert von 45 %.
Zusammenhänge, die es gar nicht gibt
Ein anderes Phänomen zur schnellen Urteilsfindung ist die sogenannte Repräsentativitätsheuristik. Repräsentativität lässt sich am einfachsten mit dem Begriff „Schema“ erklären. So hat jeder Mensch eine Vielzahl von Schemata im Kopf, die er sich durch Erfahrungen oder durch Lernen angeeignet hat. Probanden, die beurteilen sollen, welche Folge von Münzwürfen wahrscheinlicher ist – KKKK oder KZZK (K=Kopf, Z=Zahl) – halten meist die letztere Konstellation als wahrscheinlicher. Statistisch betrachtet handelt es sich jedoch um jeweils unabhängige Ereignisse und die Wahrscheinlichkeit für beide Szenarien beträgt 0,5 hoch 4 = 6,25 %.
Da das menschliche Gehirn dafür gemacht ist, Muster intuitiv zu erkennen, führt uns das Denksystem oft in die Irre.
So ist zu beobachten, dass Menschen Wahrscheinlichkeiten von repräsentativen Ereignissen überschätzen. Ebenso werden häufig empirische und kausale Zusammenhänge überbewertet bzw. auch dann gesehen, wenn gar keine vorhanden sind. Letzteres kann mit dem eingangs beschriebenen Kontrollbedürfnis in Verbindung gebracht werden. Per Saldo zeigt sich, dass die Anwendung von Heuristiken häufig zu Fehleinschätzungen und nicht optimalen Entscheidungen führt.
Renditekiller Nummer Eins: Der Dispositionseffekt
Neben den aufgeführten Heuristiken spielt die Tatsache, dass Menschen stets relativ bewerten, eine große Rolle innerhalb der Behavioral Finance und erklärt damit zahlreiche Verhaltensanomalien. Beispielsweise belegen Studien, dass die meisten Menschen lieber in einer Umwelt leben würden, in der sie 100 000 Euro besäßen und der Durchschnitt der Bevölkerung nur 50 000 Euro, als in einer Umwelt, in der sie 200 000 Euro, alle anderen aber noch mehr, nämlich 300 000 Euro hätten.
Die relative Wahrnehmung und Bewertung hinterlässt auch beim Investorenverhalten deutliche Spuren. Jeder Anleger hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass er Aktien, die über die Jahre hohe Kursgewinne verzeichnet haben, zu früh verkauft hat und diejenigen, die von Tief zu Tief dümpeln, noch immer besitzt. Selbst erfahrene Investoren laufen immer wieder in die gleiche Falle. Woran liegt das? Die Wissenschaft erklärt dieses Verhalten wie folgt: Für den Anleger fungiert der Einstiegskurs als Bezugspunkt und definiert damit die Gewinn- und Verlustzone. Fällt der Kurs unter den Einstandswert, fällt der Verkauf des Wertpapiers deshalb so schwer, weil Gewinne und Verluste nicht gleich stark empfunden werden. Verluste wiegen schwerer als Gewinne. So ärgern wir uns über einen Verlust von X Euro mehr als wir uns über einen Gewinn von X Euro freuen. Anfängliche Kursgewinne sorgen für Freude beim Anleger, die Intensität des positiven Gefühls nimmt jedoch mit dem weiteren Anstieg der Buchgewinne nur noch unterproportional zu. Bei zwischenzeitlichen Rückschlägen steigt daher die Tendenz deutlich an, den Gewinn - meist zu früh - mitzunehmen. Im Verlustbereich zeigt die abnehmende Sensitivität zunächst die gleiche Wirkung: Der Ärger über den ersten Euro Verlust ist am höchsten und nimmt dann immer mehr ab. Dies hat fatale Folgen, denn mit jedem weiteren Abgleiten in die Verlustzone gewinnt der Faktor Hoffnung an Bedeutung - meist mit negativem Ausgang.