Im Jahr 2004 veröffentlichte eine Gruppe von privaten und öffentlichen Finanzorganisationen einen Bericht mit dem Titel „Who Cares Wins“, den sie auf Einladung des UN-Generalsekretärs Kofi Annan erstellt hatte. Ziel des Reports war es, Leitlinien und Empfehlungen zu entwickeln, wie man Umwelt-, Sozial- und Corporate-Governance-Aspekte besser in der Vermögens-verwaltung, im Wertpapierhandel und beim Finanzresearch berücksichtigen könnte.
In dem Bericht heißt es: „A better inclusion of environmental, social and corporate governance (ESG) factors in investment decisions will ultimately contribute to more stable and predictable markets, which is in the interest of all market actors“ — „Eine bessere Einbeziehung von Umwelt-, sozialen und Unternehmungsführungsfaktoren in Investmententscheidungen wird zu stabileren und vorhersagbareren Märkten beitragen, was im Interesse aller Marktteilnehmer ist“.
Kein mit gesundem Menschenverstand begabter Finanzanalyst oder Unternehmenslenker hätte gegen die These Einwände vorbringen können, dass eine Unternehmung, die schlecht geführt ist, sich unsozial gebärdet und systematisch die Umwelt schädigt, langfristig kein attraktives Anlageobjekt darstellt und damit keine dauerhafte Daseinsberechtigung am Markt genießen sollte. So gesehen erschien der Aufruf, bei der Anlage „ESG-Kriterien“ zu berücksichtigen, wie die Forderung, mit gesundem Menschenverstand anzulegen. Allerdings ist gesunder Menschenverstand oft ein allzu knappes Gut. Die „ESG-Kriterien“ des Annan-Berichts wurden auf Teilaspekte verengt, die ein mechanisches Ratingsystem und staatliche Bürokratiemonster hervorbrachten.
Ratingagenturen haben verschiedene „ESG-Ratings“ entwickelt, die die Umweltfreundlichkeit, Sozialverträglichkeit und ordentliche Betriebsführung nach bürokratisch vorgegebenen Kriterien messen sollen. Damit gehen die Agenturen aber weit über das hinaus, was quantitativ erfasst werden kann. Ratings entstanden ursprünglich, um die Ausfallwahrscheinlichkeit von Krediten zu messen. Obwohl auch dabei qualitative Faktoren eine Rolle spielen, kann man anhand von Kennzahlen aus der Gewinn-und-Verlustrechnung sowie der Bilanzanalyse eine quantitative Aussage wagen.
Dagegen ist das Konzept der Nachhaltigkeit sehr komplex und beinhaltet Zielkonflikte. Weder kann es mit den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen widerspruchsfrei definiert noch auf die drei Faktoren „E“, „S“ und „G“ heruntergebrochen werden. Eine widerspruchsfreie Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele oder die Überführung der ESG-Kriterien in eine Maßzahl zum „Rating“ ist unmöglich. Subjektive und selektive Einschätzungen dominieren dabei. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass die von den Agenturen erstellten ESG-Ratings oft nicht miteinander konsistent sind.
Anlageuniversum verengt
Auf den Kapitalmärkten haben Fondsanbieter ihren Kunden höhere Erträge aus „nachhaltigen“ („ESG“) Anlagen versprochen. Möglicherweise wurden sie dabei von den Einschätzungen des Annan-Reports beeinflusst. Tatsächlich haben ESG-Anlagen zeitweilig größere Preissteigerungen verzeichnet als der gesamte Aktienmarkt. Grund dafür waren aber politisch angeregte Geldzuflüsse und nicht höhere Gewinnaussichten dieser Unternehmungen, die höhere Renditen rechtfertigen würden. Langfristig sagt der gesunde Menschenverstand, dass nach ESG-Kriterien ausgewählte Anlagen eine geringere Rendite abwerfen müssen als der gesamte Markt. Denn wenn das Anlageuniversum auf ESG-konforme Titel eingeschränkt wird und damit Anlagegelder auf die begrenzte Auswahl von Titeln konzentriert werden, sind Mindererträge zu erwarten.
Tatsächlich sind die Versprechungen der Anbieter auch nicht erfüllt worden. Insbesondere nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine müssen sie nun unbequeme Fragen beantworten: Warum hatten viele russische Unternehmen ähnliche ESG-Ratings erhalten wie vergleichbare europäische Unternehmen? Wie war es möglich, dass rund 300 ESG-Fonds in Russland engagiert waren und ihre Anleger mit Verlusten von mehr als acht Milliarden US-Dollar rechnen müssen?