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15
07
2021

Die Auswirkungen der ESG-Welle.

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Mit welcher Rendite können Anleger im Vergleich zu klassischen Investments rechnen, wenn sie auf nachhaltige Geldanlagen setzen? Wäre es „zu schön, um wahr zu sein“, wenn man etwas Gutes bewirken und dabei noch besonders profitieren kann? Die Antworten dazu sind vielfältig – und widersprüchlich.

Ein grundsätzliches Umdenken

Wir leben in turbulenten Zeiten, die von tiefgreifenden Veränderungen geprägt sind. Neben der Jahrhundert-Herausforderung des Klimawandels sowie des dramatischem Rückgangs der Biodiversität zählen dazu auch gesellschaftliche Probleme, die oft in Verbindung mit zunehmender Einkommens- und Vermögensungleichheit stehen. Ein grundsätzliches Umdenken ist deshalb dringender denn je. Dazu möchten auch Anleger zunehmend beitragen, indem sie ESG-Kriterien in ihre Entscheidungen einbeziehen. Das Kürzel steht für ökologische (Environment), soziale (Social) und unternehmenspolitische (Governance) Faktoren, die sich auf Investments anwenden lassen.

In der Einleitung zu „Mainstreaming Sustainable Investing“ [1] schreibt Michael J. Greis, dass der Zweck des Investierens darin besteht, Kapital produktiv einzusetzen, um Chancen zu nutzen und Herausforderungen zu bewältigen – und damit im Lauf der Zeit Werte für die Investoren zu schaffen, die das Kapital bereitstellen. Diese Wertschöpfung erfolgt in den drei genannten Systemen: Umwelt, Sozialleben und Unternehmenspolitik. Das heißt, dass Unternehmen umgekehrt auch von den Werten und Ressourcen abhängig sind, die von diesen Systemen bereitgestellt werden.

Durch nicht-nachhaltiges Wirtschaften werden diese Systeme beeinträchtigt, während Nachhaltigkeit sie erhält oder verbessert – und deshalb auf Dauer unverzichtbar ist. Dazu lässt sich eine Analogie zu dem anführen, was einst Warren Buffett sagte, der den Begriff „Value Investing“ als redundant bezeichnete und es einfach „Investieren“ nannte: Letztlich ist auch „nachhaltiges Investieren“ einfach nur „Investieren“. Ähnlich formulierte es im Jahr 2018 der damalige iShares-Chef Mark Wiedman:

Eines Tages werden wir das Wort "nachhaltig" weglassen, weil es einfach der Kern aller großartigen Portfolios sein wird.
Mark Wiedman, Senior Managing Director bei BlackRock Inc.

Laut Greis unterscheiden sich nachhaltige Anleger kaum von anderen Investoren, denn sie streben folgende Dinge an: [1]

Risikoreduktion
Erzielen einer Outperformance
Engagement mit ihren Investments zur Verbesserung der Performance
Erreichen von wirtschaftlichen und / oder gesellschaftlichen Zielen
Anlegen in Übereinstimmung mit eigenen Werten und Überzeugungen

Diese Aufzählung, von oben nach unten gelesen, ergibt die Reihenfolge der Präferenzen eines klassischen Anlegers. Umgekehrt, also von unten nach oben, ergibt sich dagegen der Stereotyp des nachhaltigen Anlegers. Der Unterschied liegt demnach in der Reihenfolge der Präferenzen.

ESG-Integration

Nachhaltige Investoren sehen ESG als zusätzliche, nichtfinanzielle Information, auf Basis derer sich die Analysegrundlage verbreitern und verbessern lässt. Deshalb sollten ESG-Kriterien in die Analyse von Unternehmen und die Aktienbewertung integriert werden, statt in Portfolios als externe Ein- oder Ausschlusskriterien zu fungieren. Nur so lassen sich gleichwertige oder bessere Allokationen erzielen, die im Idealfall geringere Schwankungen aufweisen – das Gegenteil des klassischen Arguments der „begrenzten Möglichkeiten“ also, das Kritiker oft vorbringen. Am Ende könnte im Idealfall eine „doppelte Dividende“ stehen: Durch die positive Wirkung auf Umwelt und Gesellschaft auf der einen und die finanzielle Performance auf der anderen Seite.“ [3]

Nun stellt sich allerdings die Frage: Wie können Unternehmen „gute“ ESG-Faktoren in finanziell messbare Performance verwandeln?

Übertragungskanäle

Dazu präsentiert die MSCI-Studie „Foundations of ESG Investing, Part 1“ drei Wege zur  Übertragung: [4]

Cashflow-Kanal: Unternehmen mit hohem ESG-Rating sind wettbewerbsfähiger und können mit ihren Investitionen überdurchschnittliche Renditen erzielen. Das ermöglicht eine höhere Profitabilität und höhere Dividenden.
Risikokanal: Unternehmen mit hohem ESG-Rating können ihre Geschäftsrisiken besser managen, was die Wahrscheinlichkeit negativer Vorfälle reduziert. Das bedeutet geringere Tail-Risiken.
Bewertungskanal: Unternehmen mit hohem ESG-Rating sind systematischen Risikofaktoren weniger stark ausgesetzt. Entsprechend sind ihre Risikoprämien und erwarteten Kapitalkosten niedriger, was höhere Bewertungen rechtfertigt.
ESG Transmissionskanäle
Abbildung 1) Transmissionskanäle
Quelle: Giese, G. / Lee, L.-E. / Melas, D. / Nagy, Z. / Nishikawa, L. (2017), Foundations of ESG Investing, Part 1: How ESG Affects Equity Valuation, Risk and Performance

Der Studie nach ist die Übertragung von ESG-Faktoren in finanzielle Werte ein Prozess, der über mehrere Kanäle abläuft. Zwar wirken diese nicht allzu stark, halten dafür aber in der Regel mehrere Jahre an. Das macht nachhaltiges Investieren vor allem für Anleger mit langfristigem Anlagehorizont interessant.

Die Autoren fanden empirische Belege dafür, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen ESG und Finanzkennzahlen besteht. Demnach kann die Veränderung des ESG-Ratings als Indikator verwendet werden (ESG Momentum): Schnelle, deutliche Verbesserungen der Ratings sollten den besten Zeitpunkt zum Investieren darstellen, noch bevor der Markt diese vollständig einpreist. Das kann durch Interessengruppen wie die Principles for Responsible Investment forciert werden, die bereits mehr als 3000 Unterzeichner haben und über 100 Billionen US-Dollar an Vermögen verwalten oder besitzen.

ESG positiver Kreislauf
Abbildung 2) Der positive Kreislauf
Quelle: Cornell, B. / Damodaran, A. (2020), Valuing ESG: Doing Good or Sounding Good?, S. 6

Die ESG-Welle

BlackRock prognostizierte schon 2018, dass das verwaltete Vermögen in ESG-ETFs von damals 25 auf 400 Milliarden US-Dollar im Jahr 2028 wachsen werde. Demnach hat eine neue Ära begonnen, in der die Frage nicht mehr lautet „Warum nachhaltig investieren“, sondern „Warum nicht?“ [5]

Auch die Studie „Is ESG a Factor?“ geht in diese Richtung. Die Autoren weisen darauf hin, dass neue Kapitaleigner – insbesondere Frauen und Millennials – in den nächsten zwei Jahrzehnten das Thema ESG in ihren Portfolios priorisieren werden. [6] Die „ESG-Welle“ könnte die Präferenzen vieler Anleger dauerhaft verschieben.

Das MSCI-Paper „Swipe to Invest“ bestätigt das: Laut einer 2019 durchgeführten Umfrage des Morgan Stanley Institute for Sustainable Investing unter vermögenden Anlegern sind 95 Prozent der Millennials an nachhaltigen Investments interessiert. Das verdeutlicht den Wunsch, nicht nur Rendite zu erzielen, sondern auch im Einklang mit persönlichen Werten anzulegen und einen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl zu leisten. Entscheidend ist, dass die von 1981 bis 1996 geborenen Millennials allein in den USA rund 80 Millionen Menschen repräsentieren, die in Zukunft eine beträchtliche Menge an Vermögen erben.

„Wir befinden uns mitten in einem 30-Billionen-Dollar-Vermögenstransfer von der Generation der Babyboomer zu ihren Kindern“ (Dave Nadig, ETF.com) [7]

Längst reiten auch institutionelle Anleger auf der Welle. Es wurden Milliarden von Euro und Dollar in Technologien und Branchen investiert, die vom Übergang in eine Welt mit sauberer Energie profitieren sollten. Man könnte den Klimawandel, positiv betrachtet, als die Wachstumsstory der heutigen Generation bezeichnen. Und die damit verbundenen, politisch gewollten Klimainvestitionen haben das Potenzial, eine Neubewertung der Märkte auszulösen.

Allerdings ist es bei der ganzen Diskussion wichtig, zu unterscheiden, was genau in Studien untersucht wurde: Auswirkungen auf Unternehmensebene oder Ergebnisse von Investmentportfolios. Das kann einen großen Unterschied machen, wie die wegweisende Metastudie „ESG and Financial Performance: Aggregated Evidence from More than 2000 Empirical Studies“ im Jahr 2015 zeigte. [8]

Die (schwierige) Frage nach der Rendite

Das einflussreiche Paper wertete die Ergebnisse von rund 2200 Einzelstudien aus. In rund 90 Prozent der Einzelstudien stellten die Forscher einen nicht-negativen Zusammenhang von ESG-Kriterien und finanzieller Leistungsfähigkeit der Unternehmen fest. Aber nutzte das auch den Investoren? Hier kommt die Studie zwar auch zu positiven Ergebnissen, aber diese sind weniger deutlich, wie folgende Grafik zeigt. Entscheidend sind die hellgrau markierten „Portfolio Studies“.

ESG-Einfluss auf Renditen
Abbildung 3) ESG-Einfluss auf Renditen
Quelle: Friede, G. / Busch, T. / Bassen, A. (2015), ESG and Financial Performance: Aggregated Evidence from More than 2000 Empirical Studies, Journal of Sustainable Finance & Investment, Vol. 5, Nr. 4, S. 221

In den Emerging Markets war der positive ESG-Effekt besonders ausgeprägt. [8] Das ist wohl vor allem auf eine nachhaltige Unternehmenspolitik zurückzuführen, die auch in der Praxis häufig mit positiven Renditen in Verbindung gebracht wird. Da die Standards der Corporate Governance in Emerging Markets oft deutlich niedriger als in Industrieländern sind, sorgen freiwillige Verpflichtungen für einen entsprechend positiven Effekt auf das Anlagerisiko – das Management handelt verlässlicher im Interesse der Aktionäre.

Gegenwind

Allerdings gibt es verschiedene Argumente, die gegen eine Outperformance nachhaltiger Anlagen sprechen. So lässt die bisher hohe Diskrepanz der verfügbaren ESG-Datenquellen kaum eindeutige Ergebnisse zu, die einen Konsens festigen können. Zudem haben nicht wenige Einzelstudien gemischte und teils negative Ergebnisse gefunden. Nimmt man für nachhaltige Investments insgesamt höhere Gebühren an, die sich aus zusätzlichen Kosten für Ratings und Personal zur Datenauswertung ergeben, landet man schnell bei einer potenziellen Underperformance. Diese Möglichkeit schließt auch die sonst eher positive Metastudie nicht aus:

„Investors, on average, are unlikely to harvest the existing ESG alpha after implementation costs.“ [8, S. 226]

In diese Richtung tendieren auch die Autoren des Credit Suisse Global Investment Returns Yearbook 2020. Dort heißt es, dass trotz umfangreicher Literatur fast keine überzeugenden Studien zu finden sind, die zeigen, dass ESG-Fonds dauerhaft besser abschneiden. Hinzu kommt die Frage nach der Kausalität: Man kann nicht sagen, ob Firmen, die Gutes tun, deshalb gut abschneiden – oder ob Firmen, die gut abschneiden, aus diesem Grund Gutes tun. Und nicht zuletzt besteht ein klassisches Backtest-Problem bei ESG-Indizes: Immer dann, wenn die Indexhistorie vor dem offiziellen Start eine Rückrechnung beinhaltete, lag die Backtest-Performance über den Renditen nach Auflage. [9]

Auch Research Affiliates zeigt sich eher skeptisch. Demnach wurden angebliche ESG-Renditeprämien bisher nicht durch lange und gründliche akademische Studien bestätigt. Zudem sind die Ergebnisse nicht robust gegenüber verschiedenen ESG-Definitionen und unterschiedlichen Regionen. [6]

Völlig unklar ist die Studienlage derzeit zum Thema CO2-Emissionen. Die Forscher sind sich uneinig darüber, ob bzw. wie sich die Kohlenstoffemissionen eines Unternehmens auf die Aktienperformance auswirkt. Und das, obwohl in den Untersuchungen zum Teil die gleichen Daten verwendet werden.

Zu schön, um wahr zu sein?

Für die Performance von Investmentportfolios lassen sich verschiedene Einflussfaktoren auf die erzielten Renditen unterscheiden. Dazu zählen vor allem risikobezogene Variablen wie Länder-, Sektor- und Faktor-Exposures. Die tatsächlichen Treiber einer scheinbaren ESG-Outperformance (oder Underperformance) sind in Wahrheit oft struktureller Natur: Klassische Fundamentaldaten, Wachstumserwartungen und intangible Assets bestimmen die Performance.

Besonders deutlich wurde das in der Studie „ESG Didn’t Immunize Stocks Against the COVID-19 Market Crash“: Eine Analyse von mehr als 1600 US-Aktien zeigte, dass ESG-Scores im ersten Quartal 2020 im Durchschnitt nur ein Prozent zur Erklärung der Renditen beitrugen, und in zweiten Quartal nur bis zu drei Prozent. [10]

Erklärende Faktoren
Abbildung 4) Erklärende Faktoren im 2. Quartal 2020
Quelle: Demers, E. / Hendrikse, J. / Joos, P. / Lev, B. (2020), ESG Didn’t Immunize Stocks Against the COVID-19 Market Crash, S. 32

Anders als oft behauptet spielten ESG-Ratings für die erzielten Renditen also kaum eine Rolle. Das bestätigt auch der Artikel „ESG Investing: Too Good to Be True?“. Demnach kam die (vorübergehend) überdurchschnittliche Performance nachhaltiger Aktien unter anderem durch eine Untergewichtung schwacher Value-Aktien und eine Übergewichtung gut gelaufener Technologiewerte zustande. Das könnte aber in Zukunft auch ganz anders aussehen. Dem Autor zufolge wäre es „zu schön, um wahr zu sein“, dass ESG-Aktien grundsätzlich besser performen. [11]

Die Studie „Sin Stocks Revisited“ sieht ebenfalls Faktor-Exposures als entscheidenden Treiber. Je nachdem, ob Sündenaktien in Faktoren mit positiven Prämien konzentriert sind oder nicht, weisen sie höhere oder niedrigere Renditen auf als der Marktdurchschnitt. Den Autoren zufolge lassen sich die erwarteten Renditen aber auch unter Ausschluss der Sündenaktien beibehalten. Und zwar, indem ESG-Portfolios so gewichtet werden, dass sich die ursprünglichen Faktor-Exposures nicht verändern. [12]

Ein weiterer Punkt gegen ESG-Kriterien ist, dass es sich um Momentaufnahmen handelt. Gerade die „Sünder“ könnten offen für Veränderungen sein oder bereits konkrete Schritte zur Verbesserung verfolgen, die sich aber noch nicht in den Ratings widerspiegeln. Man würde hier also die Partizipation am „ESG Turnaround“ verpassen, der mit besonders positiven Renditen einhergehen könnte. [12]

Theoretisch negativ

Schließlich ist das klassische Gegenargument zu ESG-Investments zu nennen, wenn die Faktoren nicht integriert betrachtet, sondern einfach nur „schlechte“ Aktien im Portfolio ausgeschlossen werden: Die Rendite lässt sich für ein bestimmtes Risiko nicht erhöhen, indem die Möglichkeiten beschränkt werden. Ganz im Gegenteil: Werden die Sünden-Aktien systematisch gemieden, sollte das am Markt unter sonst gleichen Bedingungen zu höheren erwarteten Renditen dieser Titel führen. Das wiederum hätte einen interessanten Effekt, wie Cliff Asness in einem Artikel beschrieb: Die höheren erwarteten Renditen der „schlechten“ Aktien sind (theoretisch) zugleich die Kapitalkosten der Investitionsprojekte dieser Unternehmen. Das heißt, deren Hürde liegt höher als bei nachhaltigen Unternehmen, sodass mehr dieser Projekte kalkulatorisch unprofitabel sind – und entsprechend weniger davon umgesetzt werden. Genau das wäre dann der positive Wandel, den nachhaltiges Investieren anstrebt. [13]

Dass Sündenaktien hervorragend performen können, zeigen historische Daten: Von 1926 bis 2006 erzielten US-Titel aus den Bereichen Alkohol, Tabak, Glücksspiel und Waffen eine Outperformance von drei bis vier Prozent pro Jahr. [9] Gleichzeitig wiesen sie aber auch besondere Risiken auf, was Regulierungen, Auflagen und Verbote oder Klagewellen angeht.

Sin Stocks Performance
Abbildung 5) Sin Stocks
Quelle: Dimson, E. / Marsh, P. / Staunton, M. (2020), ESG Investing, in: Credit Suisse Global Investment Returns Yearbook 2020 – Summary Edition, Research Institute, S. 9

Ein Ausschluss dieser Titel bedeutete also eine klare Underperformance. Allerdings muss das für die Zukunft nicht ebenso gelten: Wird ein fundamentaler Wandel herbeigeführt, infolge dessen die Mehrheit der Menschen bei Konsumentscheidungen nachhaltig denkt und so über eine tatsächliche Verschiebung der Nachfrage direkt die wirtschaftliche Basis der Unternehmen beeinflusst, könnte die historische Outperformance der „Sin Stocks“ auch genau das bleiben – ein Renditeeffekt der Vergangenheit.

Auch andere Effekte sind hier denkbar. Zum Beispiel, dass sich die besten Talente bei nachhaltigen Unternehmen bewerben und diesen so einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil mit weniger Personalfluktuation verschaffen. Oder aber, dass nachhaltige Unternehmen bessere und verlässlichere Partner und Zulieferer anwerben können. [14]

Marktarithmetik

Das marktarithmetische „Problem“ ist also, dass alle Aktien immer von irgendjemandem besessen werden müssen. Investoren, die nicht auf ESG-Kriterien achten, haben deshalb bei den entsprechenden Aktien eine etwas höhere Preissetzungsmacht: Sie können höhere Renditen als Anreiz verlangen, um Sündenaktien zu halten, eine Art „Reputationsprämie“. Darauf wies bereits die zuvor genannte Studie „Sin Stocks Revisited: Resolving the Sin Stock Anomaly“ hin. Die Autoren schreiben weiterhin, dass sich die Kriterien für  Sündenaktien durch eine Veränderung gesellschaftlicher Normen verschieben können. So könnten eines Tages auch Unternehmen wie Coca-Cola und McDonald's als Sündenaktien gelten, wenn Zucker und Fett wegen zunehmender Fettleibigkeit und damit verbundener Krankheiten ins Visier genommen werden. [12]

Viele Befürworter nachhaltiger Investments kritisieren jedoch die Annahme dieser ganzen Betrachtung. Das Hauptargument: Ein einfacher Ausschluss bestimmter Aktien ist nur der einfachste (und schlechteste Weg), nachhaltig zu investieren. Schon lange gibt es bessere Ansätze wie Best-in-Class, ESG-Integration und thematische Ansätze. Diese unterliegen nicht den theoretischen Annahmen des Ausschluss-Modells, sodass sich daraus keine Beeinträchtigung der Effizienzlinie nach klassischer Portfoliotheorie ergeben muss oder sogar eine Verbesserung möglich wäre.

ESG Effizienzlinie
Abbildung 6) ESG-Effizienzlinie
Quelle: Pedersen, L. H. / Fitzgibbons, S. / Pomorski, L. (2019), Responsible Investing: The ESG Efficient Frontier, S. 3

Zwischen den beiden Lagern besteht eine dritte Möglichkeit: Nachhaltige Investments könnten aufgrund des politischen Drucks und der hohen Aufmerksamkeit vorübergehend outperformen. Das lässt sich in Modellen mit einer überraschenden Zunahme von ESG-Präferenzen der Anleger erklären, die alle auf den neuen Trend aufspringen. Hier würde es darum gehen, möglichst früh dabei zu sein, um von der Welle zu profitieren – doch dieser Zeitpunkt könnte bereits vorbei sein. Dann könnten künftig wieder verstärkt die Risiken in den Fokus rücken und damit die Renditen belasten. So zum Beispiel die Einschätzung, dass sich Unternehmen mit ESG-Fokus eher ihren Stakeholdern als ihren Aktionären verpflichtet fühlen: Ressourcen, die über Dividenden oder Aktienrückkäufe an die Aktionäre fließen sollten, könnten anderweitig eingesetzt werden. [15]

Letztlich könnte es sogar der Markteffizienz schaden, wenn verstärkt Ressourcen in die ESG-Analyse gesteckt werden. Vor allem dann, wenn das zu Lasten wichtiger, klassischer Fundamentaldaten geht. Die Folge wäre, dass der Markt auf negative ESG-Nachrichten mit Kursverlusten überreagiert, wie die Autoren der Studie „Stock Price Overreaction to ESG Controversies“ schreiben. Umgekehrt könnten negative fundamentale Nachrichten bei Unternehmen mit hohem ESG-Rating zu Unrecht eher „verziehen“ werden. Von diesen Mispricings könnten wiederum antizyklische Anleger, die nicht auf ESG-Kriterien achten, ähnlich wie bei den Sündenaktien profitieren. [16]

Fazit

Nachhaltige Investments sind grundsätzlich eine „gute“ Idee. Umstritten ist und bleibt jedoch, wie sich ESG-Kriterien auf die Rendite auswirken. Letztlich könnten nachhaltige Investments im Zeitablauf einem Zyklus aus Outperformance und Underperformance unterliegen. Dann würde es langfristig keinen nennenswerten Renditeunterschied geben. Oder die Märkte werden effizienter und preisen ESG-Informationen schneller und besser ein, sodass sich die Performance-Frage von allein erübrigt. Gleichzeitig könnten Anleger mit ESG-Investments aber länger durchhalten, weil sie einen wirklichen Sinn darin sehen – und deshalb nicht wie bei anderen Fonds verkaufen, wenn Panik am Markt herrscht. Auch so könnten sie letztlich besser abschneiden. Und wer weiß – vielleicht schauen überzeugte ESG-Anleger wirklich nicht auf die Rendite und der Erhalt ihrer Kaufkraft reicht ihnen aus, wenn sie wissen, mit ihrem Geld etwas Gutes zu tun.

Um aber wirklich einen realen Wandel voranzutreiben, müssen nachhaltige Anleger auch selbst aktiv werden, statt nur Gelder umzuverteilen. Denn nicht jedes Unternehmen ist von einer Finanzierung über Eigenkapital abhängig. Deshalb setzen sich professionelle Impact Investoren gemeinsam bei Unternehmen, in denen sie investiert sind, für ihre Interessen und Ziele ein.

Auch Privatanleger sollten ihre kollektive Rolle und ihren Einfluss auf fundamentale Entwicklungen nicht unterschätzen. Eine gelebte Nachhaltigkeit und das Bestreben, bei den eigenen Konsumentscheidungen das Richtige zu tun, können langfristig erhebliche Veränderungen bewirken – Veränderungen, die sich aus der echten Welt an die Märkte übertragen, und nicht umgekehrt. Vielleicht bringt das Thema ESG die dafür notwendige Aufmerksamkeit, die das Potenzial einer solchen Welle weckt.

Quellen

[1] Greis, M. J. (2018), Mainstreaming Sustainable Investing, CFA Institute Research Foundation
[2] Financial Times (2018), BlackRock stakes claim on ‘sustainable investing’ revolution, https://www.ft.com/content/f66b2a9e-d53d-11e8-a854-33d6f82e62f8, Zugriff am 24.01.2021
[3] altii (2018), Mehrwert durch „ESG Momentum“, Interview mit Michael Huber, Raiffeisen Capital Management, S. 2
[4] Giese, G. / Lee, L.-E. / Melas, D. / Nagy, Z. / Nishikawa, L. (2017), Foundations of ESG Investing, Part 1: How ESG Affects Equity Valuation, Risk and Performance
[5] McGrath, J. (2018), BlackRock predicts ESG ETF growth to $400bn, ESG Clarity, https://esgclarity.com/blackrock-projects-esg-etf-growth-to-400bn, Zugriff am 24.01.2021
[6] West, J. / Polychronopoulos, A. (2020), Is ESG a Factor?, Research Affiliates
[7] MSCI (2020), Swipe to Invest: The Story Behind Millennials and ESG Investing, MSCI ESG Research
[8] Friede, G. / Busch, T. / Bassen, A. (2015), ESG and Financial Performance: Aggregated Evidence from More than 2000 Empirical Studies, Journal of Sustainable Finance & Investment, Vol. 5, Nr. 4, S. 210-233
[9] Dimson, E. / Marsh, P. / Staunton, M. (2020), ESG Investing, in: Credit Suisse Global Investment Returns Yearbook 2020 – Summary Edition, Research Institute, S. 7-17
[10] Demers, E. / Hendrikse, J. / Joos, P. / Lev, B. (2020), ESG Didn’t Immunize Stocks Against the COVID-19 Market Crash, NYU Stern School of Business, S. 32
[11] Rabener, N. (2019), ESG Investing: Too Good to Be True?, https://blogs.cfainstitute.org/investor/2019/01/14/esg-factor-investing-too-good-to-be-true, Zugriff am 24.01.2021
[12] David Blitz and Frank J. Fabozzi (2017), Sin Stocks Revisited: Resolving the Sin Stock Anomaly, Journal of Portfolio Management, Vol. 44, Nr. 1
[13] Asness, C. (2017), Virtue is its Own Reward: Or, One Man’s Ceiling is Another Man’s Floor, Cliff's Perspective, AQR Capital
[14] Cornell, B. / Damodaran, A. (2020), Valuing ESG: Doing Good or Sounding Good?
[15] Rabener, N. (2019), Why Pension Funds and Millennials Should Avoid ESG, in: Beyond Beta Q4 2019, S. 18-21
[16] Cui, B. / Docherty , P. (2020), Stock Price Overreaction to ESG Controversies

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